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Beschäftigte Frauen einer Textilfabrik in Dhaka

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Zwischen Fabrikbesuchen und Lohnverhandlung: Reisebericht aus Bangladesch

Regelmäßige Reisen der FEMNET-Mitarbeiterinnen zu unseren Partner*innen in den südostasiatischen Produktionsländern stellen sicher, dass unsere Projekte lokal wirken. Der direkte Austausch mit Vertreter*innen von Gewerkschaften und Organisationen vor Ort gibt uns wichtige Einblicke und Einschätzungen in die Entwicklungen des Sektors, und Projektvorhaben können entsprechend gemeinsam geplanter Ziele auf den Weg gebracht werden. Der Besuch von Auslandskoordinatorin Daniela Wawrzyniak und Aika-Maresa Fischbeck, Referentin für Auslandsprojekte und Kampagnenarbeit, in Dhaka Ende Oktober 2023 wurde zum Realitäts-Check: Die Reise führte beide mitten hinein in die aktuellen Lohnverhandlungen in der Textilbranche.

Tagebuch einer Reise von Aika-Maresa Fischbeck

Landung am frühen Morgen in Bangladeschs Hauptstadt Dhaka: Während unserer ersten Taxifahrt auf dem neu gebauten Highway über der Stadt ahnen wir nicht, wie viele Stunden wir in Staus auf den staubigen und lauten Straßen Dhakas in den kommenden zwei Wochen verbringen werden. Im Mittelpunkt steht unsere intensive Arbeitsagenda mit zahlreichen Partner-Meetings, Fabrikbesichtigungen und Besuchen bei Näher*innen.

Überstunden für unsere Wäsche

Bereits am zweiten Tag besuchen wir einen Produktionsbetrieb. Durch einen zu eng getakteten Zeitplan erreichen wir erst nach 18 Uhr das mehrstöckige Gebäude in Ashulia, in dem hauptsächlich Unterwäsche für den westlichen Bekleidungsmarkt genäht wird. Der Manager erzählt uns, dass ein Großteil der Belegschaft gerade die Fabrik verlassen hat. Enttäuscht darüber, wegen der Verspätung keine Arbeiter*innen bei ihrer Arbeit treffen zu können, werden wir in die Produktion geführt. Schon aus dem Treppenhaus können wir das Rattern der Nähmaschinen hören – denn auf einer der Etagen arbeiten doch noch dutzende Näher*innen an einem Auftrag, der dringend fertiggestellt werden muss. Wir laufen durch die Reihen, die Frauen sind bunt gekleidet und manche von ihnen schauen neugierig hoch, einige lächeln uns zu. Wir sprechen mit Mim. Sie war als Näherin tätig, bevor sie befördert wurde. Nun ist sie als Aufseherin für eine Reihe in der Produktion zuständig. Wir fragen sie, ob sie zufrieden mit ihrem Job ist, sie bejaht. Als Aufseherin muss sie nicht mehr 8 Stunden an der Nähmaschine sitzen und auch die Bezahlung ist besser.

Einkaufspraktiken der Marken setzen Fabrikbesitzer*innen unter Druck

Beim Gespräch mit dem Management sprechen wir u.a. über die Einkaufspraktiken der internationalen Modemarken. Wenn ein Auftrag nicht fristgerecht fertiggestellt wird, halten es sich manche Marken offen, bis zu 20% des vereinbarten Preises einzubehalten. Aus Angst, dass die Ware nicht abgenommen wird, beugen sich die Hersteller*innen den Konditionen der Marken. Im Mittelpunkt der Gespräche steht der neue Mindestlohn. Die Fabrikbesitzer machen deutlich, dass die höheren Löhne sich in den Einkaufspreisen der internationalen Marken widerspiegeln müssen. Die finanzielle Lage der Fabriken ist schlecht, denn die Branche hat sich nicht von den Krisen der letzten Jahre erholen können: Das Auftragsvolumen in den Fabriken liegt noch immer unter dem Niveau der Zeit vor der Coronakrise, ebenso wie die Preise. Durch gestiegene Fixkosten, z.B. für Strom, verschlechtert sich die Handlungsfähigkeit der Fabriken.

Während unserer Reise besprechen wir bisherige und zukünftige Projekte mit unseren Partner*innen vor Ort, wie hier beim Bangladesh Institute for Labour Studies (BILS).
Herzlicher Mittagsempfang bei ESDO. Leckeres Essen und persönliche Gespräche sind eine gute Auflockerung zwischen den langen Meetings
Planung und Verteilung der Verantwortlichkeiten für unsere neue Multi-Akteurs-Partnerschaft (MAP): Gemeinsam erheben wir Daten zur Situation der Bekleidungsarbeiter*innen und Auswirkungen des Textilsektors auf die Umwelt in Ashulia.
Die Fortschritte der Projektplanung werden mit Vertretern vom BMZ und Vertreterinnen von Bengo (Engagement Global) geteilt. In großer Runde können offene Fragen geklärt werden.
Gemeinsam mit dem BMZ und Bengo besuchen wir u.a. Gewerkschafter*innen von NGWF, die größte Gewerkschaft Bangladeschs und langjährige Partnerorganisation von FEMNET.
Beim Fabrikbesuch in Ashulia abends um 19 Uhr sitzen noch dutzende Näherinnen an den Maschinen. Sie machen Überstunden, um einen dringenden Auftrag fertig zu stellen. Arbeitstage von 12 Stunden kommen nicht selten vor.
Die ehemalige Näherin Mim ist seit einem Jahr Aufseherin. Sie ist zufrieden mit ihrem Job und hat nun mehr Verantwortung. Die Löhne der Aufseher*innen sind etwa 8.000 – 11.000 Taka (66 – 92€) höher als die der Näherinnen.
Für ein Training of Trainers (ToT) haben wir gemeinsam mit BCWS 16 Multiplikator*innen eingeladen. An zwei Tagen werden die Gewerkschafter*innen über das EIS (Employment Injury Scheme), einem Projekt zur Unfallversicherung in Bangladesch, informiert
Zwischen den Lerneinheiten bleibt Zeit für kurze Energizer. In den kommenden Monaten werden die 16 Multiplikator*innen ihr Wissen in Workshops an Arbeiter*innen weitergeben, damit sie (oder ihre Angehörigen) nach einem Arbeitsunfall wissen, wie sie Versicherungszahlungen erhalten können.
In Gazipur besuchen wir Näherinnen zuhause. Für 8000 Taka (fast ein ganzer Monatslohn) hat sich Kadiza eine Nähmaschine gekauft. So kann sie nach der Arbeit kleinere Auftragsarbeiten für Freunde und Bekannte erledigen und etwas dazu verdienen.
Die Wellblechhütten bestehen meistens aus einem Zimmer. Oft ist nur wenig Platz für eine kleine Kochnische.
Mazuma ist schwanger und hat deswegen ihren Job gekündigt. Die Arbeiter*innen müssen ihren Prozessschritt pro Stunde an 120 Kleidungsstücken schaffen. Der Druck und die Anstrengung waren zu hoch. Mutterschaftsgeld hat sie nicht erhalten.
Bei der Gewerkschaft Green Bangla Garments Workers Foundation wird uns berichtet, dass in den vergangenen Monaten in zahlreichen Fabriken gezielt Arbeiter*innen entlassen werden, die an Demonstrationen teilnehmen, um sich für ihre Rechte stark zu machen.
Bei einem Workshop von NGWF tauschen sich die Arbeiter*innen über die Probleme in den Fabriken aus. Von NGWF bekommen sie Unterstützung bei der Umsetzung von CBAs (Collective Bargaining Agreements = Tarifverträgen).
In einer Strickfabrik in Ashulia sprechen wir mit dem Management und drei Gewerkschaftsvertretern über den internen Beschwerdemechanismus. So können sich Arbeiterinnen zum Beispiel beschweren, wenn ein Aufseher sie schlecht behandelt oder beleidigt.
Beim Rundgang durch die Fabrik sehen wir u.a. Arbeiter*innen an Kettelmaschinen. Diese Arbeit erfordert hohe Konzentration und einen fokussierten Blick und ist deswegen sehr anstrengend.
Von den rund 1400 Arbeiter*innen in der Fabrik sind ca. 45% Frauen. Die Gewerkschaft der Fabrik wurde 2018 gegründet. Durch regelmäßige Treffen mit dem Management können Probleme wie z.B. geschlechtsspezifische Gewalt thematisiert werden.
An unserem letzten Tag in Dhaka besuchen wir gemeinsam mit Azom vom Solidarity Center die Deutsche Botschaft, um einen Brief der Clean Clothes Campaign (CCC) zu übergeben. Die CCC hat die Deutsche Botschaft um Unterstützung bei der Neuverhandlung des Mindestlohns im Bekleidungssektor gebeten.

Ausschreitungen bei Lohnkämpfen

Am 22. Oktober, drei Tage nach unserer Ankunft, gibt der Vertreter der Arbeitgeberverbände im Lohnausschuss seinen Vorschlag für einen neuen Mindestlohn bekannt: 10.400 Taka. Wir spüren, wie die allgemeine Stimmung kippt. Unsere Partner*innen äußern die Sorge, dass es in den kommenden Wochen zu Ausschreitungen kommen könnte. Bereits in den darauffolgenden Tagen erreichen uns Berichte von Polizeigewalt bei Protesten. Unsere Partner*innen schreiben uns täglich, in welchen Regionen gerade protestiert wird. Bis zum Tag unserer Abreise werden bereits zwei Bekleidungsarbeiter*innen bei den Protesten umgekommen sein – in den kommenden Wochen folgen zwei weitere Todesfälle. Die Proteste halten bis zu unserer Abreise und darüber hinaus an, doch die Stimmen der Arbeiter*innen werden nicht gehört: Ende November legt Premierministerin Sheikh Hasina den Mindestlohn auf 12.500 Taka fest. Eine mickrige Erhöhung, die in keiner Weise die Auswirkungen der Inflation widerspiegelt.

Der Lohn der Näher*innen reicht nicht zum Leben

Kurz vor Ende unserer Reise begeben wir uns auf den Weg nach Gazipur. Mittlerweile haben wir uns an das geordnete Chaos auf den belebten Straßen gewöhnt. Die Busse sind verrostet, aber farbenfroh angemalt, die Tuk-Tuks schlängeln sich ihren Weg durch die Rikschas und vollbeladenen Lastwagen. Begleitet wird die Fahrt von einer stetigen Geräuschkulisse aus Hupen und lauten Zurufen. Angekommen bei den Näher*innen können wir die Auswirkungen der viel zu niedrigen Löhne im Bekleidungssektor an der Wohnsituation der Menschen erkennen. Wir werden durch schmale Passagen geführt, in den Türen stehen Kinder, die uns neugierig folgen. Links und rechts können wir flüchtige Blicke in die dunklen Wohnungen werfen. Die Näher*innen leben in Wellblechhütten auf engstem Raum mit ihren Familienmitgliedern, denn für mehr reicht ihr Auskommen nicht. Ein Großteil des Lohnes muss die Mietkosten decken, es bleibt wenig übrig für Essen, die medizinische Versorgung und die Bildung der Kinder. Keine*r der Näher*innen, die wir befragen, verfügt über Rücklagen. Die Frauen sind außerdem der doppelten Belastung von Lohnarbeit und Care-Arbeit ausgesetzt. Auch am freien Tag in der Woche haben die Frauen keine Zeit für sich, denn der Tag wird genutzt, um z.B. die Wäsche zu erledigen.

Die Bemühungen der Gewerkschaften für bessere Arbeitsbedingungen

Die Gewerkschaften setzen sich unermüdlich für die Verbesserung der Situation der Arbeiter*innen im Bekleidungssektor ein. Durch Tarifverträge mit den Fabrikleitungen wollen sie stückweise Verbesserungen durchzusetzen. Beim Besuch des Außenbüros von NGWF (National Garment Workers Federation) in Ashulia berichtet uns ein Arbeiter, dass die Vereinigung in seiner Fabrik eine jährliche Erhöhung des Lohnes um 7% (anstelle der gesetzlichen 5%) durchgesetzt hat. Weitere häufig aufkommende Themen der Gewerkschaften sind z.B. der Zugang zu Trinkwasser oder fehlende Kantinen.

Wir kehren mit geteilten Gefühlen zurück: Wir sind froh über die gute Zusammenarbeit mit unseren verlässlichen Partner*innen und wir konnten neue Projekte auf den Weg bringen. Doch wir sind sehr besorgt über die derzeitigen Entwicklungen in Bangladesch. Die ernüchternde Lohnentwicklung und die Unterdrückung der gewerkschaftlichen Arbeit sind ein Zeichen der repressiver werdenden Politik im Land. Auch unsere Partner*innen äußern Bedenken, wenn sie an die Zukunft des Bekleidungssektors in Bangladesch denken. Umso wichtiger erscheint uns deswegen unsere Arbeit und die Unterstützung der Gewerkschaften. Sie sind es, die unerbittlich weiterkämpfen und den Arbeiter*innen eine Stimme geben. 

 

Aktueller Spendenhinweis

Stand Dez. 2023

Seit Beginn der Proteste gegen die zu geringe Mindestlohnfestsetzung sind in Bangladesch vier Menschen gestorben, über 100 Arbeiter*innen wurden inhaftiert, und gegen mehr als 40.000 Texilarbeiter*innen wird Anklage erhoben. Die Situation für die Menschen in den Gefängnissen ist prekär. Die Verpflegung ist miserabel, und Medizin steht nicht zur Verfügung.

Die Betroffenen benötigen Ihre Unterstützung.
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