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Indiens Lockdowns führen zu Kinderarbeit und erheblichen psychischen Belastungen von Textilarbeiter*innen

Indien ist derzeit das weltweit am stärksten vom Coronavirus betroffene Land. Die hohen Fall- und Todeszahlen und die dadurch verhängten Lockdowns haben schwerwiegende Auswirkungen auf die Textilarbeiter*innen. Laut FEMNETs Partnerorganisationen stehen diese unter einer hohen psychischen Belastung. Zudem sind sie aufgrund ihrer Arbeits- und Wohnsituation einem erhöhtem Ansteckungsrisiko ausgesetzt. Die Restriktionen führen auch zur Häufung von Kinderarbeit.

Seit April spitzt sich die Situation in Indien immer weiter zu. Die Fallzahlen der an COVID-19 erkrankten Menschen stiegen bis Anfang Mai, mit Höchstwerten von über 400.000 gemeldeten Fällen an nur einem Tag. Erst seit wenigen Tagen sinken die landesweiten Werte, in den Provinzen und mittelgroßen Städten bleiben die Werte jedoch hoch. Eine Entspannung der Lage ist noch nicht in Sicht. Die Medien berichten von Menschen, die mangels medizinischen Sauerstoffs vergeblich auf eine Behandlung warten, oder aufgrund fehlender Krankenhausbetten in Autos behandelt werden müssen. Da das Gesundheitssystem überlastet ist, sterben deutlich mehr Menschen als in den vorherigen Corona-Wellen. Die Krematorien sind im Vollbetrieb, mancherorts geht ihnen sogar das Brennholz aus. Vielen Familien fehlen auch die finanziellen Mittel für eine Bestattung, sodass sie ihre Hinterbliebenen am Gangesufer beisetzen. Im Internet kursieren ebenfalls Bilder von Leichen, die im als heilig geltenden Fluss treiben. Laut offiziellen Angaben sind bis Mitte Mai 279.000 Menschen in Indien am Virus gestorben, die Dunkelziffer dürfte allerdings deutlich höher liegen.

Die Regierungen in vielen Bundesstaaten Indiens reagieren mit Ausgangssperren und weiteren Einschränkungen des täglichen Lebens. Die Angst vor einer Erkrankung und die verhängten Restriktionen haben einen großen Einfluss auf die Textilarbeiter*innen. Wir haben bei unseren Partnerorganisationen in Bengalore (Karnataka) und Tirupur (Tamil Nadu) nachgefragt, welche Auswirkungen die Situation auf ihre Arbeit hat und wie sie Textilarbeiter*innen in dieser schweren Zeit unterstützen.

Auf dem Weg in die Fabriken und am Arbeitsplatz sind die Textilarbeiter*innen einem erhöhten Ansteckungsrisiko ausgesetzt

Rukmini von der Garment Labour Union (GLU) und Bhoomika Choudhury von Cividep berichten, dass die Textilfabriken in Karnataka während des seit Anfang Mai verhängten Lockdowns zunächst mit halber Belegschaft und unter Einhaltung strikter Hygienemaßnahmen arbeiten dürfen. Die Gewerkschaft beobachtete jedoch, dass viele Fabriken die Vorgaben nicht einhalten, die Arbeiter*innen zu wenig Abstand halten und kein ausreichendes Schutzequipment zur Verfügung gestellt wird. Auch die Hygiene in den Toiletten und Kantinen sei unzureichend. Dies ist im Hinblick auf die derzeitige Entwicklung im Staat sehr fahrlässig: Karnataka gehört momentan zu den Regionen mit den höchsten COVID-19-Fallzahlen. Seit einer neuen Verschärfung des Lockdowns arbeiten nur noch wenige Fabriken, vor allem am Stadtrand von Bangalore.

Die allgemeine Situation hat auch zur Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage der Fabriken geführt. Einige Arbeiter*innen berichten, dass sie vom Management in weit entfernte Fabriken transferiert werden oder der Transport in die Fabriken unterbunden wird. So wollen Fabrikbesitzer*innen sie zu einer Kündigung drängen, um gesetzlich vorgeschriebene Entschädigungszahlungen zu umgehen („Forced Resignations, Stealthy Closure”). Viele Arbeiter*innen haben Angst, ihren Job zu verlieren und stehen deswegen unter einer ständigen mentalen Belastung.

Der Verkehr mit den öffentlichen Verkehrsmitteln wurde stark eingeschränkt. Viele Arbeiter*innen sind jedoch auf diese Verkehrsmittel angewiesen, sodass sie sich in den überfüllten Fahrzeugen einem weiteren Risiko aussetzen müssen, da Abstandsregeln nicht eingehalten werden können. Arbeiter*innen die durch Restriktionen, einer Krankheit oder aus anderen Gründen nicht arbeiten können, befinden sich durch das Ausbleiben der Löhne in einer finanziell unsicheren Lage. Sie sind häufig Alleinverdiener*innen in ihren Familien und konnten wegen der geringen Löhne zuvor keine Rücklagen bilden. Die prekäre Lage der Textilarbeiter*innen hat bereits Auswirkungen auf die Versorgung und Bildung ihrer Kinder. Viele können es sich nicht mehr leisten, mehr als eines ihrer Kinder in die Schule zu schicken, zudem fallen die Mahlzeiten spärlicher aus – in vielen Familien wird weniger gesundes Essen wie z.B. Gemüse gegessen. Migrant*innen, die zum Arbeiten in den Fabriken aus anderen Bundesstaaten kommen, haben keinen Zugang zu den von der Stadt bereitgestellten Lebensmitteln, da sie keine Rationskarten ausgestellt bekommen.

Die Textilarbeiter*innen stehen unter erhöhter psychischer Belastung

Auch die Menschen in Tirupur befinden sich derzeit im Lockdown. Exportierenden Textilfabriken wurde zunächst erlaubt, bei halber Kapazität weiterzuarbeiten, damit Lieferfristen eingehalten werden können. Aufgrund der dadurch immer noch sehr hohen Mobilität der Menschen mussten jedoch auch diese Fabriken seit dem 14. Mai schließen. Mary Viyakula, Mitarbeiterin unserer Partnerorganisation SAVE, steht im direkten Austausch mit den Arbeiter*innen. Sie und ihre Organisation unterstützen Frauen und deren Familien, wenn sie erkranken und eine Behandlung brauchen. Außerdem informieren sie über Impfungen und helfen bei der Vermittlung von Terminen. Die Arbeiter*innen stehen auch laut Viyakula unter einer erhöhten psychischen Belastung. Sie haben Angst sich anzustecken und wissen nicht, wo sie im Fall einer Erkrankung behandelt werden können. Dazu kommt die Angst vor den Auswirkungen des Lockdowns und der Gefahr, in finanzielle Not zu geraten.

Schon vor der Schließung der Fabriken beklagten viele Fabrikbesitzer*innen Tirupurs einen Mangel an Arbeitskräften. Das liegt unter anderem daran, dass etwa 30% der Migrant*innen aus angrenzenden Staaten wie Karnataka nach der Ankündigung des Lockdowns in ihre Heimatorte zurückkehrten. Die Gastarbeiter*innen befanden sich im Zwiespalt: Einerseits fürchten sie um ihre Jobs, wenn sie in ihre Heimatorte zurückkehren, andererseits haben sie Angst, den Lockdown ohne Arbeit und Lohn nicht zu überstehen, falls dieser verlängert oder verschärft wird. Zuvor drängten die Fabrikbesitzer*innen die Arbeiter*innen vor Ort zu bleiben, damit sich die Produktion stabilisieren kann. In einer Fabrik in Tirupur wurden Arbeiter*innen sogar gegen ihren Willen festgehalten, bevor sie von der Polizei befreit wurden.

Der Lockdown in Tirupur führt zu vermehrter Kinderarbeit

Die wohl schlimmste Entwicklung, die unsere Partner*innen in Tirupur beobachten, ist das erhöhte Aufkommen von Kinderarbeit. Der Lockdown zwingt Familien dazu, ihre Kinder in die Arbeit Zuhause, in kleineren Fabriken oder auf Farmen und Märkten mit einzubeziehen. SAVE schätzt, dass etwa 20.000 Kinder betroffen sind. Eines dieser Kinder ist Shanmathi. Sie ist zehn Jahre alt, geht in die sechste Klasse und arbeitet seit einem Jahr für die Fabrik Shiva Tex. Durch das Abschneiden von Fäden an den gefertigten Waren erhält sie etwa 21 Rupien am Tag, das sind etwa 24 cent. Auch die zwölfjährige Leelambikai und der neunjährige M.D. Masum Raja arbeiten seit sechs bzw. acht Monaten für eine Bekleidungsfabrik und sticken kleine Blumen auf Kleidungsstücke. Für tausend gestickte Blumen bekommen sie 50 Rupien, etwa 56 cent.

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